Die Zauberberg-Forschung kann als Paradigma der Thomas-Mann-Forschung überhaupt gelten. Ihre Fraktionen zeigen sich hier in deutlich ausgeprägter Form. Die wichtigsten Typen der Zauberberg-Interpretation sind (angesichts der zahlreichen Überlagerun...
Die Zauberberg-Forschung kann als Paradigma der Thomas-Mann-Forschung überhaupt gelten. Ihre Fraktionen zeigen sich hier in deutlich ausgeprägter Form. Die wichtigsten Typen der Zauberberg-Interpretation sind (angesichts der zahlreichen Überlagerungen unvermeidlicherweise stark vereinfacht) die folgenden: 1. Die Deutung als Zeitroman. Danach ist der Roman eine Schilderung der dekadenten Vorkriegsgesellschaft und eine Analyse der Ursachen, die zum Kriege führten. 2. Die formanalytische Deutung. Ihre wichtigste Untergruppierung ist die Deutung als Bildungsroman. Diese Deutung muß die steigende Strukturlinie stark akzentuieren. Das strukturbestimmende Kapitel ist für sie deshalb der Abschnitt Schnee. 3. Die Deutung als artistisch-alexandrinisches Spiel mit Mythen und literarischen Vorlagen. 4. Die Deutung als schopenhauerisierender philosophischer Roman, gegen die Zeitroman- und die Bildungsromanthese.
Der Zauberberg war eine innerlich weitläufige Komposition mit politischen, philosophischen und pädagogischen Einschlägen, damit machte Thomas Mann einen Versuch, den Bildungsroman zu erneuern. Was Hans Castorp begreifen lernt, ist, daß alle höhere Gesundheit durch die tiefen Erfahrungen von Krankheit und Tod hindurchgegangen sein muß, so wie die Kenntnis der Sünde eine Vorbedingung der Erlösung ist. Diese Auffassung von Krankheit und Tod, als eines notwendigen Durchganges zum Wissen, zur Gesundheit und zum Leben, macht den Zauberberg zu einem „Initiationsroman“ (initiation story). Der Zauberberg ist ein „Zeitroman“ in doppeltem Sinn: einmal historisch, indem er das innere Bild einer Epoche, der europäischen Vorkriegszeit, zu entwerfen versucht, dann aber, weil die reine Zeit selbst sein Gegenstand ist, den er nicht nur als die Erfahrung seines Helden, sondern auch in und durch sich selbst behandelt. Das Buch ist selbst das, wovon es erzählt; denn indem es die hermetische Verzauberung seines jungen Helden ins Zeitlose schildert, strebt es selbst durch seine künstlerischen Mittel die Aufhebung der Zeit an durch den Versuch, der musikalisch-ideellen Gesamtwelt, die es umfaßt, in jedem Augenblick volle Präsenz zu verleihen und ein magisches nunc stans herzustellen.
So kann man den Zauberberg aus verschiedenen Winkeln betrachten. Aus der interpretatorischen Sicht kann man dieses Werk als Bildungsroman, als Zeitroman, als Initiationsroman usw. sehen, aber die vielen Zweideutigkeiten spiegeln die ironischen Seiten Thomas Manns wieder. Diese Ironie ist das Hauptanliegen Thomas Manns und der Kern seiner erzählerischen Methode. Er selbst betrachtete die Ironie als das unvergleichlichste, tiefste und als das reizvollste. Der Zauberberg wurde bis heute nur als Bildungsroman interpretiert und gehandelt. Thomas Mann wollte die ganze Welt auf ,typisch deutschen‘ Bildungsroman belehren. Aus diesem Grund wurde der Roman sehr langatmig. Thomas Mann benutzte keine direkte Sprache, sondern versteckte sein Anliegen im philosophischen Phrasen. So entstand auf natürliche Weise die Ironie.
Die Ironie Thomas Manns, die als ,epische Ironie‘ betrachtet wird, nimmt Geist und Leben, ,Künstlertum‘ und ,Bürgertum‘ als die Grundlage. Um es mit Thomas Mann kurz zu sagen, sie ist die Selbstverneinung, der Selbstverrat des Geistes zugunsten des Lebens. Die Sendung der Kunst beruht in ihrer Mittel- und Mittlerstellung zwischen Geist und Leben. Hier ist die Quelle der Ironie Thomas Manns. Bei der epischen Ironie dürfen wir nicht an Kälte und Lieblosigkeit, Spott und Hohn denken. Die epische Ironie ist vielmehr eine Ironie des Herzens, eine liebevolle Ironie; es ist die Größe, die voller Zärtlichkeit ist für das Kleine.
Thomas Mann ist eine persönliche Mischung aus Norden und Süden, aus deutschen und exotischen Elementen. Schopenhauer, Nietzsche, Wagner waren am Beginn seines Weges an seiner Seite und begleiteten ihn durch viele seiner geistigen Wandlungen. Ohne sie ist die Metamorphose und Besonderheit seiner Prosa kaum zu erfassen.
Hans Castorps Haltung zwischen Settembrini und Naphta im Zauberberg: auch darin spricht sich Ironie aus, einschließlich der vielen Vorbehalte, die er am Ende beiden gegenüber entwickelt. Die Ironie Thomas Manns ist immer Ironie nach beiden Seiten hin, etwas Mittleres, ein Weder-Noch und Sowohl-Alsauch. Castorp, eine gewisse Unabhängigkeit wahrend, bildet im Abschnitt Schnee seine eigene traumhafte Synthese aus antithetischen Debatten der beiden Kampfhähne. Er vergißt sie wieder, und es kommt ein neuer Gast: die ,Persönlichkeit‘, Mynheer Peeperkorn.
Im Grunde nimmt Hans Castorp Settembrini so wenig ernst wie Naphta oder Peeperkorn. Das heißt, ihre Meinungen sind ihm ziemlich gleichgültig, obgleich er an ihren seinen Horizont beträchtlich erweitert. ,Die Zauberberg-Ironie‘ ist also im Sinne des sokratischen Begriffes ein Mittel der Wahrheitsfindung, insofern für Thomas Mann die wahre Möglichkeit des Menschen in der Mitte zwischen den Antithesen der rational-pragmatischen und der romantisch-dualistischen Weltanschauung liegt.