In der Thomas-Mann-Forschung gilt es als hochstwahrscheinlich, dass Mann die Novelle Die Betrogene (1953), sein letztes vollendetes Werk, bewusst an das Ende seines Schaffens stellte. Sicher war Thomas Mann mit 76 Jahren alt genug, um an einen 'Schwan...
In der Thomas-Mann-Forschung gilt es als hochstwahrscheinlich, dass Mann die Novelle Die Betrogene (1953), sein letztes vollendetes Werk, bewusst an das Ende seines Schaffens stellte. Sicher war Thomas Mann mit 76 Jahren alt genug, um an einen 'Schwanengesang' zu denken, als er im Mai 1952 den Felix Krull, der sich als nicht abschließbar erwiesen hatte, nochmals unterbrach, um Die Betrogene zu schreiben. Was Thomas Mann, der bereits sechs Jahre vorher eine schwere Lungenkrebsoperation vorzuglich uberstanden hatte, aufs Neue mit seiner Sterblichkeit konfrontierte, waren jedoch nicht irgendwelche Altersbeschwerden. Es war vielmehr die antikommunistische Hysterie eines Nachkriegs-Amerikas, die den 'Sozialdemokraten' Thomas Mann nervlich so sehr belastete, dass er oft wunschte, zu "sterben und (zu) ruhen". Seine Tagebucheintragungen und Briefe aus dieser Zeit zeigen, wie sehr er unter der Hexenjagd-Atmosphare der McCarthy-Ara litt, deren Opfer er hauptsachlich durch seine politische Naivitat geworden war. "And my ending is despair", Prosperos letzte Worte in Shakespeares Drama The Tempest, wurden von da an von Thomas Mann immer haufiger zitiert. In diesem Zustand tiefer seelischer Leiden fasste er den Entschluss, in eine "zweite Emigration" in die Schweiz zu gehen, "nicht um dort zu leben, sondern um dort zu sterben", wie er in seinem Tagebuch gesteht. Thomas Manns Ruckubersiedlung nach Europa fand Ende Juni 1952, wahrend der Niederschrift der Betro-genen, statt.
Die Thomas-Mann-Forschung begrundet ihre Annahme, dass die Novelle Die Betrogene als ein 'Schwanengesang' gedacht war, mit dem Hinweis auf die Lebensumstande Thomas Manns zur Entstehungszeit sowie mit seiner Bemerkung zur Aufnahme der Betrogenen zu Lasten der Krull-Arbeit. Die vorliegende Arbeit versucht,―die bisherigen Forschungsergebnisse erganzend―'textimmanente' Anhaltspunkte fur den Endpunktcharakter der Novelle herauszuarbeiten. Der Schlusswerkcharakter der Novelle zeigt sich meiner Meinung nach vor allem in ihrer ausgepragten Intertextualitat innerhalb des Mannschen Gesamtwerks, die uber die ublichen motivischen Leitfaden im Werke Manns weit hinausgeht. Die Betrogene ist voller liebevoller Erinnerungen an fruhere Werke des Autors. Man konnte sich das Ende einer typischen Theatervorstellung vorstellen: Alle Schauspieler, die beim Stuck dabei gewesen waren, kommen noch einmal auf die Buhne, um sich beim Publikum zu bedanken und um Abschied zu nehmen. Ahnlich lasst Thomas Mann manche seiner fruheren Schriften, die die Buhne seines Dichtertums geschaffen haben, in seinem letzten Werk noch einmal 'auftreten'. So enthalt Die Betrogene zahlreiche, fur treue Leser Thomas Manns teilweise nur locker chiffrierte Anspielungen auf die literarische Vergangenheit des Autors. Aus Umfangsgrunden hat diese Arbeit in zwei Teilen erscheinen mussen. Der vorliegende Teil reprasentiert die erste Halfte der Arbeit.